Räumliches Hören
Das räumliche Hören ermöglicht es dem Menschen, Schallquellen im dreidimensionalen Raum zu lokalisieren und die akustische Umgebung wahrzunehmen. Es bildet die Grundlage für stereofone Aufnahme- und Wiedergabeverfahren.
1. Binaurale Hinweise
1.1. Interaurale Zeitdifferenzen (ITD)
Definition: Laufzeitunterschiede zwischen beiden Ohren
wobei:
- = Ohrabstand (≈ 17 cm)
- = horizontaler Einfallswinkel
- = Schallgeschwindigkeit
Eigenschaften:
- Maximum: ±0,6 ms bei seitlichem Einfall (90°)
- Auflösung: Etwa 10-20 μs Unterscheidungsgrenze
- Frequenzbereich: Besonders wirksam < 1,5 kHz
1.2. Interaurale Pegeldifferenzen (ILD/IID)
Definition: Pegelunterschiede zwischen beiden Ohren durch Kopfabschattung
Frequenzabhängigkeit:
- Tiefe Frequenzen (< 500 Hz): Geringe Abschattung (Beugung)
- Mittlere Frequenzen (500 Hz - 4 kHz): Moderater Kopfschatteneffekt
- Hohe Frequenzen (> 4 kHz): Starke Abschattung bis 20 dB
Winkelabhängigkeit:
1.3. Spektrale Hinweise (HRTF)
Head-Related Transfer Function enthält:
- Ohrmuschel-Resonanzen: Richtungsabhängige Filterwirkung
- Torso-Reflexionen: Besonders bei Schall von unten
- Kopfbeugung: Frequenzabhängige Richtungseffekte
2. Psychoakustische Verarbeitung
2.1. Duplex-Theorie (Rayleigh)
Tiefe Frequenzen: Lokalisation primär über ITD Hohe Frequenzen: Lokalisation primär über ILD Übergangsbereich: 500-1500 Hz mit beiden Mechanismen
2.2. Precedence Effect (Haas-Effekt)
Zeitfenster: ~5-40 ms nach dem Direktschall Wirkung: Reflexionen werden räumlich zum Direktschall zugeordnet Anwendung: Basis für stereofone Phantom-Schallquellen
2.3. Cocktail-Party-Effekt
Selektive Aufmerksamkeit ermöglicht:
- Fokussierung auf gewünschte Schallquelle
- Unterdrückung von Störsignalen
- Nutzung räumlicher Trennung zur Quellenunterscheidung
3. Koordinatensysteme
3.1. Horizontalebene
- Azimutwinkel : 0° = frontal, ±90° = seitlich, 180° = hinten
- Primäre Lokalisationsebene für ITD/ILD-Verarbeitung
3.2. Medianebene
- Elevationswinkel : 0° = horizontal, +90° = oben, -90° = unten
- Lokalisation primär über spektrale Hinweise (HRTF)
3.3. Entfernungswahrnehmung
Monaurale Hinweise:
- Direct-to-Reverberant Ratio: Verhältnis Direkt-/Diffusschall
- Hochfrequenz-Dämpfung: Luftabsorption bei großen Entfernungen
- Lautstärke: Bei bekannten Quellen
Binaurale Hinweise:
- ITD-Änderungen bei Kopfbewegungen (dynamische Hinweise)
- Binaural Unmasking: Verbesserung der Detektion durch Phasendifferenzen
4. Räumliche Auflösung
4.1. Minimum Audible Angle (MAA)
Horizontale Ebene: 1-2° (frontal), 3-5° (seitlich) Vertikale Ebene: 3-5° (Medianebene) Optimum: Etwa 30° seitlich vom frontalen Einfall
4.2. Lokalisationsschärfe
Einflussfaktoren:
- Signaldauer: Längere Signale → bessere Lokalisation
- Frequenzinhalt: Breitbandige Signale bevorzugt
- Pegel: Zu leise oder zu laute Signale verschlechtern Lokalisation
5. Raumakustische Effekte
5.1. Reflexionen und Hall
Frühe Reflexionen (< 50 ms):
- Lokalisation: Werden zur Direktschallquelle zugeordnet
- Klangfärbung: Kammfiltereffekte bei kurzen Laufzeiten
- Raumeindruck: Verstärkung des Quellensignals
Später Hall (> 50 ms):
- Diffuser Nachhall: Räumlichkeitseindruck
- Unabhängige Lokalisation: Bei ausreichendem Pegel
- Raumgröße-Wahrnehmung: Korrelation mit Nachhallzeit
5.2. Bose-Effekt
Phänomen: Verschiebung der wahrgenommenen Quellenposition bei spektralen Änderungen Ursache: Veränderung der binauralen Hinweise durch Raumakustik Relevanz: Wichtig für Beschallungsanlagen und Raumakustik
6. Technische Anwendungen
6.1. Binaurale Aufnahmetechnik
Kunstkopf-Stereofonie:
- Realistische ITD/ILD: Durch anatomisch korrekte Nachbildung
- HRTF-Wiedergabe: Spektrale Hinweise werden konserviert
- Kopfhörer-Wiedergabe: Optimale Reproduktion der Aufnahme
6.2. 3D-Audio-Systeme
Mehrkanal-Systeme:
- 5.1/7.1 Surround: Erweiterung der horizontalen Lokalisationsebene
- Dolby Atmos: Zusätzliche Höhenkanäle für 3D-Lokalisation
- Ambisonics: Vollsphärige Schallfeld-Rekonstruktion
6.3. Virtuelle Akustik
HRTF-basierte Synthese:
- Individualisierung: Personalisierte Head-Related Transfer Functions
- Real-time Processing: Echtzeit-Faltung für interaktive Anwendungen
- Kopftracking: Dynamische HRTF-Anpassung bei Kopfbewegungen
7. Messverfahren
7.1. HRTF-Messung
Standardisierte Verfahren:
- Kugelförmige Lautsprecher-Arrays: Vollsphärige HRTF-Erfassung
- SOFA-Format: Standardisiertes Datenformat für HRTF-Datensätze
- Individualmessungen: Personalisierte HRTF-Bestimmung
7.2. Lokalisationsexperimente
Pointing-Methode: Direktes Zeigen auf wahrgenommene Quellposition Head-Pointing: Ausrichtung des Kopfes zur Quelle Koordinaten-Angabe: Numerische Erfassung der Winkelkoordinaten
Das räumliche Hören bildet die physiologische Grundlage für alle stereofonen und mehrkanaligen Audiowiedergabe-Systeme und ist entscheidend für das Verständnis moderner 3D-Audio-Technologien.