Laufzeit- und Pegelstereofonie
Die Laufzeit- und Pegelstereofonie sind die beiden grundlegenden Verfahren zur Erzeugung von räumlichen Hörerlebnissen in Zweikanal-Audiosystemen. Sie nutzen die natürlichen binauralen Lokalisationshinweise des menschlichen Gehörs.
1. Laufzeitstereofonie (AB-Stereofonie)
1.1. Grundprinzip
Zeitdifferenzen zwischen linkem und rechtem Kanal simulieren die interauralen Zeitdifferenzen (ITD) bei natürlichem Hören.
1.2. Mikrofonanordnung
AB-Setup:
- Omnidirektionale Mikrofone im Abstand von 0,2 - 1,5 m
- Typische Abstände: 20 cm (ORTF-ähnlich) bis 150 cm (Wide AB)
- Ausrichtung: Meist parallel nach vorn gerichtet
1.3. Laufzeitberechnung
Für eine Schallquelle im Winkel zur Mittelachse:
wobei:
- = Mikrofonabstand
- = Schallgeschwindigkeit (340 m/s)
- = Einfallswinkel
Beispiel:
- Mikrofonabstand: 1 m
- Seitlicher Einfall (90°): ms
1.4. Phantomschallquellen-Positionierung
Lokalisationsfunktion:
Typische Werte:
- ms → Zentrale Position (0%)
- ms → Ca. 25% seitlich
- ms → Vollständige Seitenlokalisierung (100%)
1.5. Charakteristika
Vorteile:
- Natürliche räumliche Abbildung
- Gute Tiefenstaffelung
- Weite, luftige Stereobasis
- Kompatibel mit monauraler Wiedergabe
Nachteile:
- Unschärfere Lokalisierung einzelner Quellen
- Längere Aufbauzeit für Positionierung
- Raumabhängigkeit der Aufnahme
2. Pegelstereofonie (XY-Stereofonie)
2.1. Grundprinzip
Pegeldifferenzen zwischen den Kanälen simulieren die interauralen Pegeldifferenzen (ILD) durch koinzidente Richtmikrofone.
2.2. Mikrofonanordnung
XY-Setup:
- Richtmikrofone (meist Niere) am gleichen Ort
- Achsenwinkel: Typisch 90° - 135°
- Kapselmittelpunkte: Maximal wenige cm Abstand
2.3. Pegeldifferenz-Berechnung
Für Nierencharakteristik bei Winkel zur Mikrofonachse:
Richtungsmaß:
2.4. Lokalisationskurven
Phantomposition in Abhängigkeit der Pegeldifferenz:
PSP (%) | 0 | 25 | 50 | 75 | 100 |
---|---|---|---|---|---|
ΔL (dB) | 0 | 3 | 6.5 | 11 | 18 |
2.5. Charakteristika
Vorteile:
- Präzise Lokalisierung einzelner Quellen
- Kompakte Aufstellung
- Gute Monokompatibilität
- Definierte Aufnahmebasis
Nachteile:
- Weniger natürliche Räumlichkeit
- Geringere Tiefenstaffelung
- "Flacheres" Klangbild
3. Kombinierte Verfahren
3.1. ORTF-Stereofonie
Parameter:
- Achsenwinkel: 110°
- Mikrofonabstand: 17 cm (entspricht Ohrabstand)
- Kompromiss: Laufzeit- und Pegelstereofonie
Eigenschaften:
- Aufnahmewinkel: Ca. 160°
- Ausgewogene räumliche Abbildung
- Standard in Rundfunk und Klassik-Aufnahmen
3.2. NOS-Stereofonie
Parameter:
- Achsenwinkel: 90°
- Mikrofonabstand: 30 cm
- Niederländische Rundfunk-Entwicklung
3.3. DIN-Stereofonie (EBS)
Parameter:
- Achsenwinkel: 90°
- Mikrofonabstand: 20 cm
- Deutsche Norm für Orchesterbeschallungen
4. Technische Umsetzung
4.1. Panning-Verfahren
Amplituden-Panning:
wobei der gewünschte Panningwinkel ist.
4.2. Zeit-basiertes Panning
Haas-Panning:
- Verzögerung: 0-30 ms auf dem schwächeren Kanal
- Precedence Effect: Lokalisation folgt früherem Signal
- Anwendung: Besonders bei Sprache wirksam
4.3. Stereo-Aufnahmewinkel
Definition: Winkelbereich, der die volle Stereobasis ausnutzt
Berechnung für XY:
wobei:
- = Achsenwinkel der Mikrofone
- = Grenzwinkel für -6 dB Richtungsmaß
4.4. Kompatibilität
Monokompatibilität:
- Laufzeitstereofonie: Sehr gut (reine Addition)
- Pegelstereofonie: Gut bei koinzidenter Anordnung
- Kritisch: Bei großen Laufzeitdifferenzen (Kammfilter)
5. Anwendungsbereiche
5.1. Klassische Musik
Bevorzugt: AB- oder ORTF-Verfahren Grund: Natürliche Raumwiedergabe und Tiefenstaffelung
5.2. Popular Music
Bevorzugt: XY-Verfahren oder Multi-Mikrofonierung Grund: Präzise Quellenortung und Mix-Kontrolle
5.3. Rundfunk
Standard: ORTF als Kompromiss Grund: Gute Monokompatibilität bei akzeptabler Räumlichkeit
5.4. Live-Beschallung
Anwendung: Zeit-basiertes Panning für Sprachverständlichkeit Grund: Nutzung des Precedence Effects
6. Psychoakustische Aspekte
6.1. Summenlokalisation
Phänomen: Lokalisierung liegt zwischen den physikalischen Quellenpositionen Anwendung: Grundlage für Phantom-Schallquellen im Stereodreieck
6.2. Gesetz der ersten Wellenfront
Bedeutung: Das zeitlich erste Signal bestimmt primär die Lokalisation Konsequenz: Laufzeitunterschiede wirken bereits ab ~1 ms
6.3. Kritische Laufzeiten
- < 1 ms: Reine Klangfärbung (Kammfiltereffekte)
- 1-5 ms: Lokalisationsverschiebung
- 5-40 ms: Haas-Effekt (Precedence)
- > 40 ms: Echo-Wahrnehmung
Die Laufzeit- und Pegelstereofonie bilden das theoretische Fundament für alle stereofonen Aufnahme- und Wiedergabeverfahren und sind essentiell für das Verständnis räumlicher Audioproduktion.