Kopfhörer

Kopfhörer sind elektroakustische Wandler für die individuelle Schallwiedergabe direkt am Ohr. Sie unterscheiden sich grundlegend von Lautsprechern durch die direkte Ankopplung an das Gehör und die daraus resultierenden spezifischen Anforderungen.

1. Funktionsprinzipien

1.1. Dynamische Kopfhörer

Aufbau: Ähnlich dem dynamischen Lautsprecher mit Membran und Schwingspule im Magnetfeld

Ersatzschaltbild in FU-Analogie:

  • Elektrische Seite: Schwingspulenwiderstand ReR_e, Induktivität LeL_e
  • Mechanische Seite: Membranmasse MmM_m, Compliance CmC_m, Dämpfung RmR_m
  • Akustische Seite: Gekoppelt über Ohrkanal-Impedanz

1.2. Elektrostatische Kopfhörer

  • Membran: Geladene Folie zwischen perforierten Elektroden
  • Antrieb: Elektrostatische Kräfte statt magnetische
  • Vorteile: Sehr geringe Verzerrungen, präzise Wiedergabe
  • Nachteile: Benötigen Hochspannungsversorgung

1.3. Planarmagnete

  • Membran: Leiterbahnen auf dünner Folie
  • Magnetfeld: Planares Array von Permanentmagneten
  • Eigenschaften: Großflächige, gleichmäßige Krafteinwirkung

2. Ankopplung ans Ohr

2.1. Gehörgang-Akustik

Der Gehörgang wirkt als akustischer Resonator:

fresonanzc4Lgeho¨rgang3400 Hzf_{resonanz} \approx \frac{c}{4 \cdot L_{gehörgang}} \approx 3400 \text{ Hz}

Diese natürliche Resonanz muss bei der Kopfhörer-Entzerrung berücksichtigt werden.

2.2. Ohrmuschel-Effekte

Die Ohrmuschel (Pinna) verursacht richtungsabhängige Filtereffekte:

  • Kammfilter-Strukturen durch Reflexionen
  • Frequenzabhängige Verstärkungen je nach Schalleinfallsrichtung
  • Lokalisation durch spektrale Hinweise

3. Ersatzschaltbild

3.1. Mechanisch-akustische Kopplung

Zohr=Zgeho¨rgang+ZtrommelfellZ_{ohr} = Z_{gehörgang} + Z_{trommelfell}

Die Ohrimpedanz ZohrZ_{ohr} ist stark frequenzabhängig und beeinflusst den Übertragungsfrequenzgang.

3.2. Polster-Einfluss

Geschlossene Kopfhörer:

  • Luftvolumen zwischen Kopfhörer und Ohr wirkt als Compliance
  • Leckagen am Polster beeinflussen den Bassbereich
  • Polstersteifigkeit verändert die mechanische Ankopplung

Offene Kopfhörer:

  • Akustischer Kurzschluss reduziert Bassanteil
  • Natürlichere Raumwahrnehmung
  • Geringere Isolation von Umgebungsgeräuschen

4. Entzerrungsverfahren

4.1. Freifeld-Entzerrung

Ziel: Neutrale Wiedergabe für Lautsprecher-Aufnahmen

Verfahren: Kompensation der natürlichen Gehörgang-Resonanz und Ohrmuschel-Effekte

HFF(f)=1Hohr,freifeld(f)H_{FF}(f) = \frac{1}{H_{ohr,freifeld}(f)}

4.2. Diffusfeld-Entzerrung

Ziel: Optimierung für diffuse Schallfelder und Kunstkopf-Aufnahmen

Anwendung: Besonders für binaurale Aufnahmen (z.B. Neumann KU 100)

HDF(f)=1Hohr,diffus(f)H_{DF}(f) = \frac{1}{H_{ohr,diffus}(f)}

4.3. HRTF-basierte Entzerrung

Head-Related Transfer Function berücksichtigt:

  • Individuelle Anatomie (Kopfform, Ohrmuschel)
  • Richtungsabhängige Übertragung
  • Binaurale Syntheseeffekte

5. Messverfahren

5.1. Kunstkopf-Messungen

Standardisierte Messpuppen:

  • HATS (Head and Torso Simulator) nach IEC 60318-7
  • KEMAR (Knowles Electronics Manikin for Acoustic Research)
  • Reproduzierbare Messbedingungen

5.2. In-Situ-Messungen

Messung am realen Ohr:

  • Sondenmikrofone im Gehörgang
  • Individuelle Anpassung
  • Kompensation der Sonden-Einflüsse

6. Psychoakustische Aspekte

6.1. Binaurale Verarbeitung

Räumliches Hören über Kopfhörer:

  • Crosstalk-Simulation für Lautsprecher-ähnliche Wiedergabe
  • Binaural Beats durch geringfügige Frequenzunterschiede
  • Im-Kopf-Lokalisation vs. externe Phantomquellen

6.2. Lautstärke-Anpassung

Equal Loudness Contours:

  • Frequenzabhängige Lautstärkewahrnehmung
  • Hörschutz-Aspekte bei direkter Ohrkopplung
  • Maximalpegel-Begrenzung zur Gehörschutz

7. Anwendungsbereiche

7.1. Studio-Monitoring

  • Referenz-Kopfhörer für Mixing und Mastering
  • Offene Bauweise für natürliche Raumwahrnehmung
  • Lineare Übertragung ohne Färbungen

7.2. Consumer-Audio

  • Geschlossene Bauweise für Isolation
  • Komfort-optimierte Polsterung
  • Klangcharakteristik oft bewusst gefärbt

7.3. Gaming und VR

  • 3D-Audio-Wiedergabe mit HRTF-Processing
  • Niedrige Latenz für Echtzeitanwendungen
  • Integrierte Mikrofone für Kommunikation

7.4. Professionelle Anwendungen

  • Simultandolmetscher: Hohe Sprachverständlichkeit
  • Piloten: Noise-Cancelling und Kommunikation
  • Hörgeräteakustik: Diagnostik und Anpassung

8. Qualitätsmerkmale

8.1. Technische Parameter

  • Frequenzgang: Möglichst linear im Hörbereich
  • Impedanz: Anpassung an Verstärker-Ausgangsimpedanz
  • Wirkungsgrad: Maximaler Schalldruck bei gegebener Leistung
  • Klirrfaktor: Nichtlineare Verzerrungen

8.2. Ergonomische Faktoren

  • Tragekomfort: Gewichtsverteilung und Polsterung
  • Anpressdruck: Balance zwischen Dichtheit und Komfort
  • Kopfbügel-Design: Verstellbarkeit und Materialien

Die Kopfhörer-Entwicklung erfordert die Integration akustischer, mechanischer und psychoakustischer Aspekte zur Optimierung der individuellen Schallwiedergabe unter Berücksichtigung der komplexen Ohr-Kopfhörer-Kopplung.

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